Das Meer rauscht. Die Jungs sind mit Gummihai und Surfbrett bewaffnet im Wasser. Petra wird gleich einkaufen fahren. Und ich sitze mit Campingstuhl am Strand und blicke aufs Meer. Ist doch alles schön, oder?
Stimmt, aber trotzdem hat es der Wunschzustand völliger Gelassenheit phasenweise schwer, denn das Leben in der Familienauszeit bedeutet nicht, dass es ohne Konflikte und Spannungen abgeht.
Ich denke manchmal an Gespräche, die es so oder so ähnlich mit Freunden VOR Antritt der Reise gegeben hat:
Mittlerweile sind wir knapp drei Monate unterwegs und so langsam bekomme ich eine Ahnung, denn es gab in den letzten 2-3 Wochen vermehrt Gelegenheit dazu, Erfahrungen zu sammeln. Aber der Reihe nach.
Zunächst mal die kurze Schilderung der Umstände, damit das Bild klar ist: Es handelt sich nicht etwa um eine Ehekrise, denn Petra und ich kommen - wie auch im normalen Alltag in Gehrden - weitestgehend ohne Streitigkeiten durchs Leben. Nein, es dreht sich mehr um den Umgang zwischen Eltern und Kindern. Einerseits in der Frage, wer entscheidet darüber, was gemacht wird? Wer ist also der Bestimmer, wie es früher immer in der Kita hieß.
Andererseits geht es um den grundsätzlichen Umgang miteinander im Falle von Konflikten, die unweigerlich zwischen Brüdern auftreten, aber auch auch zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Tatsache, dass wir auch auf dieser Reise Lernzeiten und Schule haben, ist ein beliebter Reizpunkt. Kurz: Die Eltern sagen "heute ist Schule" und die Kinder haben keine Lust darauf. Alles, wie im richtigen Leben.
Unsere Familie besteht - so viel kann ich sicher behaupten - durchaus aus "charakterstarke Persönlichkeiten", die zudem noch sehr unterschiedlich "ticken". Die jeweilen Enden auf dieser Skala bilden vermutlich Petra und unser ältester Sohn, der mit seinen knapp 11 Jahren sicher noch nicht in der Pubertät steckt - aber ehrlich gesagt manchmal schon sehr eindrücklich vermittelt, wie man sich diese vorstellen könnte. Hier treffen also manches Mal Welten aufeinander. Und beide wissen nur zu gut, welche Knöpfe sie wie beim anderen drücken können, um dem aufflammenden Konflikt noch etwas Luft zuzufächeln.
Stellen wir uns also genau so eine Situation vor: Schon beim Frühstück ist die Laune im Keller, da die Bilder über die Gestaltung des Tages deutlich auseinandergehen. Was ist also zu beobachten?
Beim ältesten Sohn:
Klar, er “bockt”. Und er kämpft mit seinen Gefühlen. Vor allem, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen geht, schlägt die Stimmung schneller in die Extreme bei ihm um. Dann wird geblockt und provoziert - und vor allem ausgeteilt. “Wenn es mir nicht gut geht, dann soll es euch auch nicht gut gehen” scheint mir ein innerer Mechanismus zu sein, der dann zur Eskalation beiträgt.
Bei Mama und Papa:
Gerade vor dem ersten Tee bzw. Kaffee wird kurzangebunden zurückgeblufft. Inhaltlich bestehen durchaus Argumente, schließlich gab es auch mit den Kindern eine Vereinbarung über Schulumfang, -zeiten und -inhalte. Diese sind aber im Moment vergessen und damit eröffnet sich das freie Feld der emotionalen Auseinandersetzung - im Zweifel auf Nebenkriegsschauplätzen.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch der jüngste Sohn mitstreiten kann. Er neigt jedoch im echten Streit eher zum Einknicken und Kopfeinziehen - ganz anders als sein großer Bruder. Daher ist das Explosionspotenzial vorhanden, aber für die Illustration meiner Gedanken zu unserem Konfliktverhalten nicht weiter maßgeblich.
Situationen à la "Du machst jetzt aber ... - Ich will aber nicht ..." gibt es ja nun auch zuhause. Und nicht selten läuft es dann auf gereizte Ansagen hinaus, denn das Mittel von Kompromiss uns Bestechung ist in diesem Zustand oft schon unerreichbar weit weg. Und gelernt haben wir ja alle (als Eltern), dass wir Regeln auch durchsetzen müssen, sonst brauchen wir sie nicht zu setzen. Das nennt sich Erziehung und ist an solchen Tagen des Konfliktes extrem anstrengend. Da wünsche ich mir manchmal ganz ehrlich eine Pärchenzeitreise - ohne Kinder. Was ist also anders auf der Reise?
Richtig, es gibt keinen Rückzugsraum! Im stationären Normalfall endeten diverse Eskalationen (Thema nebensächlich) im Zweifel mit knallenden Türen und einem "aus der Situation gehen". Gerade Lenni hat diese Strategie in heftigeren Auseinandersetzungen für sich entdeckt. Im Grunde keine verkehrte Idee, denn meistens können wir mit etwas Abstand deutlich besser über die Situationen reden als mitten im emotionalen Ausnahmezustand.
Dennoch hat dieses Prozedere auch seine Tücken, denn ein Rückzug ins eigene Kinderzimmer bedeutet auch eine Verweigerung. Wenn ich das Thema besprechen will, bleiben mir nur zwei
Optionen:
a. Ich dringe in "seine Privatsphäre" ein. Damit respektiere ich den Rückzugsraum nicht.
b. Ich hoffe auf einen späteren Zeitpunkt. Gerade hier behindert der Alltag allerdings oftmals, denn vielleicht muss ich noch arbeiten und komme die folgenden Stunden gar nicht dazu. Oder noch ungünstiger: ich muss los und komme erst (zu) spät wieder. Man darf nicht vergessen, dass wir Erwachsenen auch diverse "Ausreden" nutzen, um uns zurückzuziehen - in Keller, Büro oder soziales Umfeld.
Nicht selten vergeht also deutlich mehr Zeit, als für eine echte Klärung ideal gewesen wäre. Dann kommt das Thema entweder gar nicht mehr auf den Tisch bzw. erst beim nächsten Mal wieder (den gelöst hat sich schließlich gar nichts). Oder es kommt mit ein paar Tagen Verzögerung zum Austausch, der dann aber oft nur an der Oberfläche kratzt.
Wenn ich für diesen Beitrag so weit aushole, dann mit der Begründung, dass die auf der Reise gereiften, neuen Perspektiven in der Tat noch sehr ungewohnt und frisch sind. Ich brauche also Raum, um die folgenden Gedanken richtig und dauerhaft einzuordnen.
Diese Reise im Wohnwagen mit der ganzen Familie bietet eben gerade keinen Rückzugsraum. Dafür bietet sie sehr viel mehr Zeit, um sich mit den Konflikten wirklich zu befassen. Damit bieten sich mehr Gesprächsmöglichkeiten und natürlich auch mehr Gelegenheiten, die eigene Rolle zu reflektieren. Was hat das alles mit mir zu tun? Eine wahnsinnig elementare Frage beim Umgang mit Konflikten.
Insofern versuche ich, diese Situationen als wertvolles Trainingsgelände zu betrachten. Schließlich trainiert es uns alle in einer Fähigkeit, die wir nur bedingt ausgebildet haben: Konfliktfähigkeit und Streitkultur.
Ich versuche oft, Konflikten aus dem Weg zu gehen oder über alles zu reden. Petra möchte am liebsten Harmonie und schluckt im Zweifel (zu) vieles runter, um des lieben Friedens willen. Lenni lässt dann oft die Mauer runter, wird sarkastisch oder flüchtet wortlos. Dem voraus gehen oft Vorwürfe an “die/den anderen” - Selbsteinsicht Fehlanzeige. Manchmal kippt es allerdings auch ins Gegenteil und er macht sich fertig. Wäre ja kein Wunder, wenn der Mechanismus innerer Abwertung und Unsicherheit sich auf der Oberfläche erstmal gegen die anderen richtet. Psychologischer Schutz, halt. Und der Jüngste knickt im Konfliktfall eher ein. Dann macht er sich vor allen selber fertig. “Ich bin Schuld” - eine Selbstabwertungsspirale, die er hoffentlich später erkennen und stoppen kann. Aber es kann auch zu echter Wut und heftiger Reaktion führen - bislang allerdings nur gegenüber seinem Bruder so gesehen.
Wir alle können also - gerade weil wir uns nicht aus dem Weg gehen können - ganz viel über das miteinander Streiten lernen. Genau da liegt eines der größten Potenziale dieser Auszeit für uns. Denn machen wir uns nichts vor: wie groß sind die Chancen, unseren Umgang mit Konflikten unter Normalbedingungen zuhause nachhaltig zu verbessern? Mitten im Alltagsstress, der Arbeit, der Schule und den ungeplanten Herausforderungen des Lebens? Wenn wir hier nicht neue Wege ausprobieren und bewusst die Konflikte als Chancen sehen, wann dann?
Insofern kann ich jetzt schon Momente für uns verbuchen, auf denen wir besser und konstruktiver miteinander umgegangen sind. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns alle vermutlich das wertvollste Reisegeschenk machen können, wenn wir alle versuchen einen Tick besser zu streiten als bislang. Wenn wir das schaffen, dann werden wir nicht nur in der in Zukunft anstehenden Pubertät davon profitieren, sondern lebenslang. Insofern ist es gut, keinen Rückzugsraum zu haben. Es verlangt uns allen einiges ab, aber die Chance ist es absolut wert.
Ende offen.
Viviane ÖZKILINC
Da bin ich gespannt!
Ich würde das gerne in der „echten“ Pubertät nochmal mit Dir reflektieren ✌🏼✌🏼.
Die „Vorpubertät“ ist schon eine echte Herausforderung..... 😆
Robert
Ingo, toll reflektiert.