Heute ist der 27. Oktober 2020 - und damit tatsächlich der #Tag100 seit unserem Aufbruch Ende Juli, unfassbar. Da liegt es nahe, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. Es gab zwar kein 100Tageprogramm aka Plan, gleichwohl aber sind wir sicher nicht ohne mehr oder weniger konkrete Vorhaben und Erwartungen losgefahren. Welche waren das? Und wo stehen wir da heute? Zumindest meine subjektiven Annahmen über das, was auf der Reise passieren wird oder sollte möchte ich hier teilen:
1. Losfahren - trotz Corona
Ich betone hier gerne noch einmal, dass ich mich im Laufe des April 2020 schon innerlich darauf eingestellt habe, dass wir die Reise um ein Jahr verschieben. Haben wir aber nicht, also: Ziel erfüllt.
Wir sind noch unterwegs und schon jetzt können wir sagen, dass es eine gute Entscheidung war, zu fahren. Wir hätten bei einer Verschiebung auf 2021 nichts gewonnen: Corona ist immer noch da, d.h. die Aussichten an Schul- und Businessfronten sind unverändert, die Preise für Wohnwagen eher 15-20% gestiegen, die Campingplätze und Innenstädte leerer, ... ok, die Punktspiele beim Fussball laufen wieder, aber die Auswahlmannschaften pausieren nach wie vor.
Und, was immer der Corona-Herbst und -Winter noch bringen mag, wir sind das Wagnis eingegangen und losgefahren. Wie weit wir kommen und ob wir das anvisierte Jahr komplettmachen, hängt letztlich nur teilweise in unserer Hand ... und ist am Ende weniger wichtig, als tatsächlich aufgebrochen zu sein.
2. Das Selbstexperiment starten: Erleben, was es mit uns als Familie macht
Nach den anfänglichen Wochen im Urlaubsmodus haben wir Alltagserfahrung auf der Reise gesammelt - auch in Stresssituationen. Die Enge und fehlende Rückzugsoption ist phasenweise eine Herausforderungen, ja, aber sie bietet wertvolle Chancen (siehe Artikel “Geschenkte Konflikte”). Und, es sind alle noch dabei - keiner ist geflüchtet, bislang.
Es ist eine gemeinsame Erfahrung, die alle auch gemeinsam machen - und somit auch später gemeinsam erinnern und nutzen. Es zeichnet sich ab, dass es eine wertvolle Zeit ist, dessen wahrer Wert sich sicher erst über die Jahre erschließen wird.
3. Sich gemeinsam (weiter)entwickeln
Die Besonderheit ist: Alle machen diese Erfahrungen zusammen und gleichzeitig. Es ist ein wenig wie Corona im Kleinen - alle erleben das gleiche und sind damit Teil der Entwicklung.
An den Kindern sehen wir es sicher am besten, weil wir uns auf diese Aspekte fokussiert haben. Sie wachsen tatsächlich enorm - nicht nur körperlich. Egal, ob es um neue Kontakte zu anderen Kindern geht, um neue Umgebungen, neue Lösungsideen für bislang unbekannte Alltagsherausforderungen oder die limitierten Beziehungen, wenn nur noch die Eltern oder der manchmal anstrengende Bruder verfügbar sind. Und sie machen das wirklich gut.
Und natürlich sehen wir es auch an uns. Es ist ein Luxus, im Grunde jederzeit mit dem Partner über die oft neuen Situationen reflektieren zu können, gemeinsam die Herausforderungen zu meistern und sich selbst auch aus neuen Perspektiven kennenzulernen. Eine echte Entdeckungsreise eben.
4. Nicht zu viel planen, sich treiben lassen
Im ersten Anlauf hatten wir die ersten 3-4 Wochen der Reise fest gebucht. Es gab Reservierungen auf 5 oder 6 Campingplätzen in Dänemark und Schweden. Soweit der Plan. Dann kam Corona und alles anders - und es ging nach Polen.
Defacto haben wir die erste Station knapp hinter der deutschen Grenze gebucht und bezogen. Die zweite reservierte Option an der Ostseeküste haben wir dann schon zugunsten des Besuchs bei Gina verworfen - ohne es zu bereuen. Ganz im Gegenteil! Wir wurden durch vermeintliche Zufallsbegegnungen und spontane Momente beschenkt, die wir niemals hätten planen können. Und so ging es weiter.
Mit jeder Entscheidung, dem Zufall die Tür offenzuhalten und intuitive auf den Bauch zu hören, gab es neue Wendungen - und mehr (Selbst)Vertrauen in diesen Weg. Klar, manchmal war die Realität auch anders, wie unser Ausflug auf Tschechien’s größten Campingplatz bewies. Aber unter dem Strich ist unsere Bilanz hoch positiv. Dementsprechend bleiben wir auch zuversichtlich, dass wir am Ende die richtige Entscheidung für die langen Wintermonate treffen werden.
5. Schule unterwegs - Lernen neu erfahren und gestalten
Wir machen Schule unterwegs, allerdings gefällt mir der Begriff der Lernzeit besser. Bei Schule haben alle sofort ein Bild, das zum einen nicht immer positiv ist und zum anderen sofort Rollen verteilt. An Petra und mich dementsprechend die Lehrerrolle - und die möchte ich gar nicht haben.
Aber ja, es geht auf dieser Reise auch darum, dass die Kinder etwas lernen sollen - neben dem, was sie sowieso en passant für sich mitnehmen. Da greifen die Muster von Pflichterfüllung, dem Denken an die Zeit danach und natürlich auch die Lust, das Lernen mit ihnen gemeinsam ohne den großen Druck freier und besser gestalten zu können.
Ein Abenteuer an sich war also alleine schon mal die Frage, wie wir das gestalten werden. Unterrichtsmaterialien haben wir aus dem Kreise unserer Lehrerfreunde mitbekommen, so dass es ein leichtes gewesen wäre, im Grunde da weiterzumachen, wo wir während der Homeschooling-Erfahrung des Coronajahres schon Erfahrungen gesammelt haben. Aber es sollte ja anders sein.
Als Nichtpädagogen haben vor allem Petra und ich uns dieser Herausforderung gestellt. Die Frage lautete: Wir würdest du "Unterricht unterwegs" für ein Jahr gestalten, wenn du alles machen könntest und nicht zwingend den Lehrplan erfüllen müsstest? Genau: du startest in der Startaufstellung zu Beginn mit dem Lehrplan ... das haben wir so gemacht, denn - um ehrlich zu sein - es ist das einfachste und am ehesten vertraut.
Wir haben also im Internet die niedersächsischen Lehrpläne für die Klassen 5 (Lenni) und 3 (Jasper) herausgesucht und als Maßstab verwendet. Immerhin beantwortet sich hier die Frage, welche Fächer die Jungs eigentlich im Normalfall machen müssten - und in welchem Umfang. Und natürlich haben wir diese nicht 1:1 übernommen, sondern gemeinsam mit den Jungs einen "50 Prozent Plan" vereinbart, bei dem sie ihre Präferenzen auch benennen durften. Herausgekommen ist also eine Struktur, die wir mit insgesamt zwei Zeitstunden an fünf Tagen als offizielle Lernzeit verabschiedet haben. Und zusätzlich sollte noch eine Stunde an sogenannter Projektzeit hinzukommen, d.h. selbstbestimmtes Lernen an selbstgewählten Projekten (wie bspw. "Gitarre spielen"). Soweit der Plan.
In meiner Vorstellung klang das geradezu genial: Nur die Hälfte des normalen Stundenumfanges, Mitbestimmung und eigenständiges Lernen toller Projekte - wow! Die Praxis sah dann allerdings oft anders aus.
Die Jungs haben "die Vereinbarung" angesichts mannigfaltiger Alternativen im Tagesprogramm schnell vergessen. Oft endete es dann in der Diskussion über die Durchsetzung von Regeln und es fielen Sätze wie "muss aber sein", "nein, wir können nicht ständig Musik oder Kunst machen" oder "das ist aber der Plan". Auch die in meiner Vorstellung so großartigen Projekte wurden zumeist zu Gunsten von "Schwimmen in Pool oder Meer", "Spielen mit neuen Freunden" oder "Zockzeit" vergessen.
Und damit kommen wir zu wichtigen Learnings unsererseits:
(Zwischen)Fazit: Wir versuchen, das Thema Lernen (im Sinne von Schule) entspannter an, denn wir wollen nicht in den klassischen Rollen eskalieren. Wir haben nämlich auch oftmals keine große Lust auf Deutsch, Mathe und Englisch. Außerdem bleibt festzuhalten: nein, wir haben keine Kinder der Marke "fütter mich mit (Schul)Wissen bitte". Es sind großartige Jungs, die liebend gerne draussen rumtoben, stundenlang am iPad zocken (wenn man sie lässt) und das Thema "lebenslanges Lernen" noch lange nicht in den Kontext ihrer späteren Entwicklungschancen sehen. Alles gut.
Wir haben die Schultage auf drei in der Woche verringert und ein paar - für uns alle - entspanntere Vereinbarungen getroffen, wie bspw. "Keine Schule an Fahrttage". Außerdem machen wir Ferien parallel zu den offiziellen Schulferienzeiten. Das funktioniert im Großen und Ganzen ganz ordentlich. Die Diskussionen bleiben trotzdem nicht immer aus, aber insgesamt sind alle dabei.
So werden wir die Strukturen und Inhalte sicher weiter mit neuen Erkenntnissen und Entwicklungen anpassen. Und gelernt haben wir alle jetzt bereits eine Menge - vor allem die Hobbylehrer unter uns. Und hey, eine Surfschule ist doch auch irgendwie Schule ;).
6. Arbeiten unterwegs muss im mobilen Sendestudio funktionieren
“Ich hoffe, da gibt es dann eine halbwegs stabile Internetverbindung ...” - diese Annahme über die Bedeutung der wechselnden Bedingungen vor Ort sollte sich als richtig erweisen. Das Campingplatz-WLAN ist in der Regel so schwach wie sein Ruf, daher müssen Handy und LTE den Karren ziehen. Bisher hat’s immer hingehauen - wenn auch schon einmal vom Parkplatz auf dem Berg aus. Sorgen über eine Abriegelung des deutschen Providers waren bislang unbegründet.
Und ja, organisatorisch ist die Blockierung des einzigen Wohnraumes für alle während Live-Schaltungen eine Challenge. Es machen aber alle gut mit und ich gewöhne mein Ohr langsam an einen konstanten Hintergrundgeräuschepegel - mal rauscht das Meer, mal geht die Heckenschere mal bellt der Hund - ist halt so und im Grunde auch nicht schlimm.
7. Mit weniger Komfort klarkommen
Ich bin mir nicht sicher, ob die erlebte Reduzierung von Raum und Komfort tatsächlich ein Schritt in Richtung einer “weniger ist auch ok - Haltung” bedeutet. Klar, zuhause haben wir von allem mehr, aber wirklicher Verzicht findet hier eigentlich nicht statt.
Immerhin, wir halten uns bislang gut an die selbstgesteckten Budgetgrenzen und die Kassenlage ist hin und wieder offenes Thema. Die Kinder interessiert es aber nicht wirklich. Hier platze schnell eine gedankliche Seifenblase meinerseits.
Durch das parallele Arbeiten kommen auch in der Reisezeit Einnahmen rein, so dass uns das Gesamtjahr tatsächlich weniger kosten könnte als ursprünglich angenommen. Das neue Gesamtbudgetwunschziel ist “maximal 50.000€”.
Der größte Verzichtsfaktor - vermutlich bei uns allen - betrifft den Medienkonsum. Nimm den Kinder zeitweise ihre Tablets - oder uns unsere Handys - und jeder spürt sofort, was echter Verzicht bedeutet. Wenn wir mehr Erfahrungen in dieser Hinsicht sammeln wollen, dann an dieser Stelle!
8. Gesund bleiben!
Vieles stellt sich sicher anders dar, wenn jemand krank wird - oder sogar mehrere. Dann erleben wir was es bedeutet, wenn wir uns nicht nur ein Wohnzimmer, sondern ein Krankenzimmer teilen.
Bislang sind wir gesund unterwegs - bis auf vereinzelte Migränephasen. Wir hoffen natürlich alle, dass es noch lange so bleibt. Vor allem liegt nahe, dass wir dem Coronavirus entkommen können, denn dann wären vermutlich zusätzliche Probleme durch Quarantäneauflagen und ausländische Gesundheitsversorgung zu erwarten.
Mal schaun, was der Herbst und Winter 2020/21 hier noch bringen, denn die aktuelle Lage spitzt überall sich merklich zu. Die relative Unbeschwertheit im Umgang mit Corona ist verflogen. Jetzt stecken wir zum ersten Mal auf der Reise in einem Risikogebiet und die Einschränkungen in Form von Platz- und Grenzschließungen kommen näher.
Gleichwohl bin ich davon überzeugt, dass wir hier auf unseren Campingplätzen ein deutlich geringeres Ansteckungsrisiko haben, als zuhause in Gehrden. Hier sind wir 24 Stunden an der frischen Luft, haben unsere eigene Wohnung dabei, tragen natürlich Mund- und Nasenschutz beim Einkaufen etc. und haben vermutlich deutlich weniger Sozialkontakte. Alleine die Tatsache, dass die Jungs nicht In der Schule und Petra nicht im Rathaus sind, macht einen Unterschied, denn auch die Region Hannover ist mittlerweile "rot".
Wir fliegen also auch hier für die kommenden Wochen auf Sicht und verlassen uns in der Einschätzung der Risiken gerne weiter auf unser Bauchgefühl und die Infos der lokalen Behörden.
Es gäbe sicher noch einiges zu ergänzen an Erfahrungen aus den ersten 100 Tagen, aber in der Tat fallen mir keine wesentlichen Erwartungen mehr ein, die ich tatsächlich im Vorfeld bewusst formuliert habe. Eine implizite mögen vielleicht erst später bewusst werden, aber die könnt ihr dann hier an späterer Stelle lesen :).
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