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Digitale Transformation muss im Driftmodus bewältigt werden

Ingo Stoll • 1. Dezember 2016

Wenn es um die digitale Transformation von Unternehmen und Organisationen geht, lautet eine der häufigsten Management-Aussagen „Digitale Transformation ja, aber wir müssen die Menschen mitnehmen.“.

Erstens: im „müssen“ klingt viel Fremdbestimmung an – statt Gestaltungswille. Und zweitens: ein „aber“ ist immer eine Relativierung des zuvor Gesagten. Passender erscheint mir daher ein „und“. Verändert man die Interpunktion noch leicht, dann wird aus dem Satz: „Digitalisierung? Ja, und wir wollen die Menschen mitnehmen.“ Was dieses Vorhaben mit Querbeschleunigung zu tun hat, möchte ich hier ausführen.

Digitalisierung vs. digitale Transformation

Die Digitalisierung ist nicht die Herausforderung. Streng genommen bedeutet Digitalisierung nur den Transfer eines analogen Prozesses, Produktes oder Werkzeugs in eine digitale Form. Hiervon gibt es praktisch keine Ausnahmen.



„Alles was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert.“
Gerd Leonhard, Futurist



Erscheint diese Mission schon vielen als kompliziert, sollten sich jene jedoch vor Augen führen, dass beim Digitalisieren noch nichts Neues entsteht. Statt echter Innovationen, bringt die reine Überführung in digitale Formate lediglich Rationalisierungs- und Optimierungseffekte. Am Beispiel Musikindustrie: Das mp3-Format brachte keine neue Musik – sie wurde schlicht günstiger reproduzierbar.

Die digitale Transformation der Branche bewirkten erst echte Innovationen, die weit über reine Digitalisierung hinausgingen. Sie bestanden in der Schaffung ganz neuer Ökosysteme (bspw. iTunes) oder im Aushebeln der Plattenlabels durch die beginnende Direktvermarktung der Künstler an ihre Fans (bspw. über YouTube). Das Digitalisierte ist der neue Standard und wer den Standard erfüllt, schafft keine Wettbewerbsvorteile. Unternehmen brauchen neue Ideen, die über den Standard hinausgehen. Deshalb geht es um echte, digitale Transformation – nicht nur Digitalisierung.

Diese Herkulesaufgabe kann nur mit den eigenen Mitarbeitern gelingen – keinesfalls gegen sie. Für den Übergang in eine weiterentwickelte Unternehmenszukunft werden Knowhow, Erfahrungswissen und Beziehungsnetzwerke gebraucht. Zukunft kann man allerdings nicht befehlen – man muss sie mit und für die Menschen gestalten. Das ist nur sekundär eine Technologieaufgabe. Primär geht es um die Zusammenarbeit mit Menschen, um deren Verhalten, Einstellungen und Kommunikation. Es geht viel um die Psychologie erfolgreicher Veränderung. Damit wird es nicht nur kompliziert, sondern komplex.

„Technology is the easy part. The hard part is change.”
Daniel Hartelt, CIO Bayer Group


Change Management greift zu kurz

Bei Veränderung denken viele Führungskräfte reflexartig an Change Management. Dabei soll ein stabiles System A nach einer Anpassungsphase wieder in ein stabiles System B überführt werden. Zentrales Kennzeichen des exponentiellen Wandels ist es jedoch, dass es kein B mehr gibt. Es kommt viel mehr darauf an, die permanente Veränderung selbst als den neuen Normalzustand zu begreifen.

Unternehmen brauchen daher deutlich verbesserte Veränderungsfähigkeiten. Jeder Mitarbeiter sollte zu einem „Master of Transformation“ werden, denn wer besser verändert, wird echte Wettbewerbsvorteile erzielen. Bei dieser Gestaltungsaufgabe sind die Methoden des Change Managements unbrauchbar.

Physik und so – Vektoren und Kräfte

Die lebhaften Diskussionen über das Für und Wider neuer Methoden und Denkweisen in nahezu allen Organisationen erinnert mich an meinen Physikunterricht zu Schulzeiten. Wie war das noch mit Kräften, Vektoren und Resultierenden? Ziehen alle Vektoren in gegensätzliche Richtungen, dann heben sie sich praktisch auf. Trotz enormen Energieeinsatzes, herrscht Stillstand statt Bewegung.

Entscheidend für die Bewegung in Richtung Zukunftsbefähigung ist der gebündelte Vektor der Kräfte, d.h. die Resultierende. Wir brauchen deutlich mehr Veränderungsgeschwindigkeit.

Wie war das noch mit der Beschleunigung?

Die Analogie zur Physik kann helfen, um die Herausforderung der digitalen Transformation und ihre Komplexität durch den Faktor Mensch besser zu begreifen. Sprechen wir über Geschwindigkeit – genauer gesagt über Beschleunigung. Damit sich die Organisationen schneller anpassen können, sollen Prozesse, Entwicklungszyklen sowie neue Denk- und Verhaltensweisen möglichst schnell verinnerlicht und implementiert werden. Es geht darum, die Organisation auf dem schnellsten Weg von A (wie Analog) nach D (wie Digital) zu bringen.

In den Vorstellungen vieler Führungskräfte dominiert der Wunsch, diese Strecke auf dem kürzesten Weg zu bewältigen (Die Ideal-Gerade X -> Xw). Ein schönes Beispiel für diese Haltung lässt sich beim Wunsch nach mehr Kollaboration und Wissensaustausch in der eigenen Organisation oft beobachten. Vermeintlich ist der Weg klar und die Entscheidung über die Anschaffung einer zentralen Software für ein Social Intranet schnell getroffen. Kollaboration lässt sich jedoch nicht durch das Management anordnen. Eine solche Plattform für Wissensmanagement und Austausch tatsächlich zum Leben zu erwecken, ist der komplexe Teil der Aufgabe.

In der Realität dauert der Anpassungsprozess deutlich länger. Analog gewachsene Organisationen lassen sich nicht per Dekret auf ein digitales Mindset umrüsten, weil wir Menschen so nicht funktionieren. Der tatsächliche Verlauf entspricht aus meiner Erfahrung eher dem einer (Transformations)Kurve als dem einer Geraden. Wenn das der realistische Verlauf ist und es um maximale Beschleunigung geht, dann ist die digitale Transformation eine Drift Challenge. Warum? Weil Driften im Normallfall die angemessene Methode für eine möglichst hohe Kurvengeschwindigkeit ist.

Driften lernen – So meistern Unternehmen die Digitale Transformation

Beim Driften „versucht der Fahrer sein Fahrzeug zum Übersteuern zu bringen, während er die Kontrolle und ein hohes Fahrtempo beibehält. Bei diesen Fahrmanövern zeigen die gelenkten Vorderräder zur Kurvenaußenseite, die hinteren Räder haben einen höheren Schräglaufwinkel als die Vorderräder. Als Motorsport-Wettbewerb (kommt) es auf Geschwindigkeit, Driftwinkel und Eleganz der Drifts an.“ (Quelle: wikipedia)

Die 7 Grundregeln des Driftens aka Digitale Transformationsbewältigung

1. Das Trägheitsmoment überwinden

„Das von Isaac Newton formulierte Prinzip der Trägheit besagt, dass ein Körper im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung verharrt, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird dies zu ändern.“ (Quelle: wikipedia)

In jeder Organisation finden sich Menschen, die sich durch größere Neugier, höhere Risikobereitschaft und eine größere intrinsische Offenheit für Neues auszeichnen. Typischerweise stellen sie nicht die Mehrheit in der Belegschaft. Die Masse steht Veränderungen eher neutral bis skeptisch gegenüber. Das gängige psychologische Muster der Reaktion bei Veränderung ist eher durch Passivität gekennzeichnet. Menschen reagieren verunsichert und abwartend. In manchen Fällen wird aus der Verunsicherung echte Angst, die aus der passiven Haltung echte Opposition und Widerstand formt.

Um die Trägheitsmomente zu überwinden, sollten zunächst diejenigen Mitarbeiter identifiziert werden, die zu den „natürlichen Pionieren“ gehören – quer durch alle Hierarchiestufen und Unternehmensbereiche. Diese Menschen müssen in ihrer Veränderungsbereitschaft bestärkt werden. Der Kräftevektor reagiert dabei zu Beginn eher seitwärts. Messbare Wirkungen und Ergebnisse sind in dieser ersten Phase nur schwer ablesbar, was für ungeduldige Führungspersönlichkeiten nicht einfach auszuhalten ist. Innerhalb der Organisation baut sich durch diese Querbeschleunigung jedoch ein hohes Maß an kinetischer Energie auf. Die Organisation nimmt Fahrt auf.

2. Das Regelsystem abschalten

Es klingt paradox, aber für einen kontrollierten Drift muss das Fahrzeug bewusst instabil gemacht werden. Die elektronischen Sicherheitssysteme (ESP) müssen deaktiviert werden. Jetzt kommt es auf das Geschick des Fahrers an.

Jede Führungskraft kennt das Phänomen des Kontrollverlustes. Wer nicht bereit ist die gewohnten Arbeits- und Denkweisen zu verlassen, wird keine neuen Lösungswege entdecken. In gewachsenen Organisationen müssen daher oftmals historisch bewährte Regeln infrage gestellt werden dürfen. Ohne Rückendeckung durch die Unternehmensführung ist nachvollziehbar, dass kaum ein Mitarbeiter gezielte Regelbrüche herbeiführen wird. Genau das ist aber notwendig, um den Wettbewerbsvorteil disruptiver Wettbewerber von außen zu kompensieren.

Beim Driften wird das Lenkrad entgegen des Kurvenverlaufes eingeschlagen. Bleiben Bewerter und Entscheider in der gewohnten Spur, dann werden unorthodoxe Ideen und Konzepte zu früh aussortiert und als „realitätsfern“ abqualifiziert. Beim Driften braucht die Organisation ein hohes Vertrauen in die eigenen Mitarbeiter sowie die Bereitschaft zum Scheitern in einzelnen Experimenten. Für viele Unternehmen stellt diese Anforderung einen schwierigen Paradigmenwechsel in der Innovationskultur dar.

3. Auf die grüne Wiese gehen

Bei der Dirt-Drop-Technik „wird die Hinterachse des Wagens kurzzeitig auf einer Grasfläche neben der Strecke platziert. Dabei wird der Wagen so aufgeschaukelt, dass das Heck über die Fläche neben dem Asphalt rutscht und damit die Haftung verliert. Sobald der Eingangsdriftwinkel erreicht ist, wird das Fahrzeug wieder auf dem Asphalt bewegt.“ (Quelle: wikipedia)

Diesen Effekt kann die Unternehmung erzielen, indem sie bewusst den Schritt raus aus den eigenen Räumlichkeiten und der eigenen Gesellschaftsform macht. Mitarbeiter für die Ausarbeitung neuer Geschäftsideen bewusst „auf die grüne Wiese“ zu setzen, mit Startups zu kooperieren oder eigene zu gründen, ist ein effektives Instrument, um eingetretene Pfade zu verlassen. Wichtig ist allerdings, anschließend wieder auf die Strecke zurückzufinden, denn wenn die neue Innovationskultur nur im Paralleluniversum gedeiht – ohne dass die Kernorganisation nachhaltig befruchtet wird – fehlt es an Querbeschleunigung.

4. Das Training macht den Unterschied

Beim Driften handelt es sich um anerkannten Motorsport. Die Wettbewerbe finden auf eigens dafür vorgesehenen Rennstrecken statt. Es gibt ausgewiesene Meister, wie bspw. Ken Block, die ihre Geschicklichkeit im Gymkhana auch auf ungewöhnlichen Geländen demonstrieren. Aber stets gilt beim Driften: Es wird kein unkalkulierbares Risiko eingegangen.

Für jedes Unternehmen gilt analog, dass passende Trainingsgelände geschaffen werden müssen, damit seine Mitarbeiter das Driften (aka bewusst herbeigeführte Instabilität) unter kontrollierbaren Bedingungen üben können. Digitale Transformation heißt nicht, den Fortbestand der Unternehmung durch unkalkulierbare Investitionsentscheidungen zu gefährden. Vielmehr geht es darum, unter klar definierten Rahmenbedingungen möglichst frühzeitig herauszufinden, ob der nächste Schritt für ein neues Geschäftsmodell, ein neues Produkt oder einen veränderten Prozess lohnenswert erscheint. Nach dem Prinzip des Crowdfunding können Ideen also frühzeitig am Markt auf Akzeptanz getestet werden, bevor massive Investitionen erfolgen.

5. Im Kleinen beginnen

Die Drift-Techniken und ihre physikalischen Grundmuster funktionieren unabhängig von der Fahrzeuggröße. Es kann jedoch sinnvoll sein, das Driften zunächst in einem Gokart zu üben, bevor es in den Rennwagen geht.

Meiner Erfahrung nach ist es fast egal, wo mit der Projektierung begonnen wird – Hauptsache es wird begonnen. Es existieren keine Blaupausen für den Erfolg und deshalb gilt, je früher gestartet wird, desto früher existieren individuelle Lerneffekte und Wissen darüber, was funktioniert und was nicht.

6. Die Instrumente im Blick behalten

Was bei einem gekonnten Drift oftmals spielerisch einfach wirkt, ist meistens das Ergebnis harter Arbeit und konsequenter Beherrschung von Motor, Fahrwerk und Material.

Organisationen müssen für sich die richtige Feinabstimmung finden. Und sicherlich brauchen Unternehmen zukünftig mehr digitales Knowhow. Um die Integration neuer Berufsbilder und die Einstellung von Datenanalysten, Softwarespezialisten und Quereinsteigern aus anderen Disziplinen wird kaum ein Unternehmen herumkommen.

Mit diesen Verstärkungen, einer Vision und einer modernen IT-Infrastruktur herrscht im Cockpit konzentrierte Ruhe. Das Quietschen und der Qualm sind nur äußerliche Zeichen, die unweigerlich zum Driften dazugehören.

7. Habt Freude am Driften!

Mit einem sauberen Drift kommt man nicht nur schneller um die Kurve – es macht auch deutlich mehr Spaß! Oder um es mit dem unvergleichlichen Rallye-Weltmeister Walter Röhrl zu sagen: „Die wirklich guten Fahrer haben die toten Fliegen auf den Seitenscheiben.“

Menschen, die Freude an ihrer Arbeit haben, sind im Allgemeinen motivierter und leistungsfähiger. Dieses Momentum ist zentral für die Zukunftsfähigkeit und die Weiterentwicklung der Innovationskultur. Deshalb sollte der zentrale Antrieb für die Veränderung nicht aus Angst und Druck bestehen („Machen Sie mit, oder ihren Arbeitsplatz wird es morgen nicht mehr geben …“), denn hoher Veränderungsdruck erzeugt nur Gegendruck (und unzureichende Resultierende).

Menschen können mit unpopulären Entscheidungen besser umgehen, wenn ihnen das „Warum“ kommuniziert wird. Eine klare Vision für das Unternehmen und seine digitale Zukunft ist daher extrem hilfreich. Digitale Transformation braucht gute Gründe und gemeinsame Ziele, damit sich Menschen dahin mitnehmen lassen. Und Organisationen kommen schneller von A(nalog) nach D(igital), wenn sie das Driften lernen.

Hinweis:
Dieser Artikel ist zunächst im Blog der Agentur neuwaerts Ende Dezember 2016 erschienen. Eine kompakte Fassung findet sich auch bei t3n unter dem Titel "Digitale Transformation: Unternehmen im Drift-Modus" als Gastautorenbeitrag (30.01.2017).

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