Aber so richtig „arbeiten“? Nein, das wollte ich nicht, denn diese Zeit versprach so viel andere, spannende Dinge. Im Grunde war die gesamte Idee der Reise ein Projekt für sich – ein Selbstexperiment mit der ganzen Familie. Da wollte ich nicht mit dem Kopf woanders sein.
Mit dem Wechsel ins Winterquartier und dem Umzug ins Ferienhaus nach Carvoeiro begann eine neue Phase. Ein anderes Konzept: „stationärer“ Alltag in Portugal, mit Schule und die Verprobung eines Lebens im europäischen Ausland. Warum dann nicht die freien Vormittage für ein paar spannende neue Projekte nutzen?
Als mein Freund Frank kurz vor Weihnachten mit der spontanen Idee für ein Audiografie FESTIVAL um die Ecke kam, habe ich nicht lange gezögert. Klar, machen wir. Vorbereitungszeit: gut eine Woche bis zum 29. Dezember. Kein Problem …
Es war lange her, seit ich das letzte mal ein Event organisiert habe. Und für wahr, es hat mir gefehlt! Und so entstand die ausverkaufte Premiere mit 50 Teilnehmenden quasi nebenbei über die Weihnachtsfeiertage. Eine schöne Gelegenheit, manch alte Bekannte einzubinden und neue Kontakte in gemeinsame Aktionen zu bringen. So eine Neuerwerbung ist bspw. Michael Osterhoff, der als erster Videobiograf Deutschlands schon vor 15 Jahren gestartet ist und mit dem mich die Liebe zu Lebensgeschichten verbindet.
Das Festival war ein gelungener Neustart und wer mag, findet hier ein kleines Highlightvideo von Frank und hier mehr Informationen dazu. Das Material und die Mitschnitte vom Event warten hier noch auf weitere Bearbeitung. (Spoileralarm: eine zweite Auflage in 2022 ist bereits geplant …).
Das Festival war aber noch mehr als eine willkommene Abwechslung für mich. Es war auch der intime Rahmen für ein erstes Coming Out des Audiotheaters „Zwei Seelen. Eine Wahl.“, welches sich neben Podcasts und Audiografie wie ein roter Parallelfaden durch diese Reisezeit zieht.
Den gut 8-minütigen Trailer des ersten Audiotheaterstücks "Zwei Seelen. Eine Wahl." - quasi als Einblick in die Hexenküche - findet ihr auf Vimeo: https://vimeo.com/501497947.
Im März 2020 habe ich Isabel kennengelernt. Die Idee für ein „Hörbuch der etwas anderen Art“ hat uns zusammengeführt. Für Isabel bin ich nach anfänglicher Rolle als „technischer Berater und Audioproduzent“ zum Co-Createur und Partner in einem Audioprojekt ganz neuen Formates geworden. Und für mich ist es die ideale Gelegenheit, meiner künstlerischen Identität eine Spielwiese und Entwicklungschance zu geben. Also eine absolute Win-Win-Konstellation.
Es ist deshalb kein Zufall, dass uns unser Weg im Sommer auch nach Österreich und direkt zu Isabel nach Anif/Salzburg geführt hat. Es war das erste Treffen, denn bis dato hatten wir nur über die Distanz am Audiotheater gearbeitet. Im September entstanden so weitere Ideen und konkrete Fortschritte im Projekt.
Seit wir in Portugal sind, hat uns Isabel sogar mehrmals besucht, um das Stück und die Ideen zur Inszenierung voranzubringen. Somit ist nicht nur das Audiotheater zu einem festen Bestandteil dieser außergewöhnlichen Zeit geworden, sondern auch Isabel.
Seit nun bald einem Jahr haben sich aus den anfänglichen Ideen neue, nie geahnte Perspektiven entwickelt! Gerade die Wochen seit Mitte Januar waren daher sehr arbeitsintensive bzw. kunstintensive Zeiten für mich. Isabels Apartment in der Nähe und diverse Outdoor-Arbeitsplätze sind zum echten Office geworden, so dass ich skurriler Weise plötzlich wieder „zur Arbeit“ gefahren bin – und zwar mitten im harten Lockdown in Portugal.
Apropos Lockdown … die Entwicklungen in Portugal nach den Festtagen haben uns wirklich kalt erwischt. Und das lag nicht am kältesten Winter in Portugal seit über 20 Jahren! In all den Wochen davor ist Portugal sehr gut und vergleichsweise glimpflich durch die Coronazeit gekommen. Die Ankündigung der Zwangsferien und Schulschließung kam buchstäblich aus dem Nichts – von einem Tag auf den anderen.
Aber ich will hier nicht über den Lockdown klagen, denn obwohl jetzt wirklich alles stillsteht und die Kinder eben nicht zu Schule gehen können, bin ich jeden Tag froh, dass wir diese Zeit nicht in Deutschland erleben müssen. Was ich hier in den Fokus rücken möchte ist die Tatsache, dass ich diese Zeit als ein merkwürdiges Paradox erlebe: Ich arbeite gerade quasi in Vollzeit, während der Rest der Familie zwangsentschleunigt wurde. Keine Schule, kein Fussball, keine Surfschule, keine Freunde treffen.
Diese gegengleiche Entwicklung wurde noch verstärkt durch ein paar zusätzliche „Beschäftigungen“, die nur darauf gewartet zu haben scheinen, dass ich endlich wieder den Korridor für neue Projekte freigebe.
Mit bereits erwähntem Michael (der Videobiograf) sprach ich nach meiner ersten Woche auf der neuen Social-Audio-Plattform „clubhouse“ über unsere Erfahrungen, Einschätzungen und die Frage, wie wir clubhouse vielleicht für unsere Ideen der Lebensgeschichten nutzen könnten. Für mich war es die Gelegenheit, endlich einen Jugendtraum anzugehen: eine eigene Talkshow machen!
Auch hier galt: gesagt, getan. Innerhalb von zehn Tagen entstand so die erste Sendung von KULTFIGUREN, dem Live-Talk mit Stoll & Osterhoff auf clubhouse. Und unser Gast zum Motto „Helden unserer Jugend“ war kein geringerer als Ex-Nationaltorwart Toni Schumacher!
Die gesamte Organisation hinter den Kulissen hat mich total elektrisiert. Als Toni mit dem 1. FC Köln im DFB-Pokalfinale im Mai 1983 antrat, bin ich mit meinem Trainer in dessen VW Polo von einem Punktspiel meines TV Badenstedt zurückgekommen. Im Radio lief natürlich die Livereportage und Toni klebte mit seinen Mannschaftkollegen quer über meinen Kinderzimmerkleiderschrank. Er war ein absolutes Idol für mich. Und natürlich hatte ich sein Buch „Anpfiff“ 1987 gelesen.
Die KULTFIGUREN Sendung hat für mich viele neue Seiten und Geschichten an Licht gebracht. Es war der Blick „auf den Menschen Toni Schumacher“, der im harten Profigeschäft hinter der Rolle des unbezwingbaren Torhüters keinen Platz gehabt hat. Und mir war auch nicht bekannt, dass Toni sogar in zwei Portraits von Andy Warhol gemalt worden ist. Großartige Geschichte!
Mittlerweile sind bereits drei KULTFIGUREN Sendungen gelaufen – und es geht weiter! Wir sind aktuell auf dem Sendeplatz Donnerstag, 19:30 Uhr.
Tja, und dann sind da noch ein paar Lebensgeschichten, die ich als Audiograf über die Distanz aufnehmen und produzieren darf – unter anderem die von Eberhard, der im November seinen 90. (!) Geburtstag feiern wird. Es sind großartige Erzählungen aus neun Jahrzehnten und Eberhard ist mit einem für mich unfassbaren Erinnerungsvermögen für Details, Personen und Begebenheiten gesegnet.
Mir war also nicht langweilig – und wird es auf die kommenden Monate auch nicht werden ;). Vor allem das Audiotheater verlangt volle Aufmerksamkeit und ganzes Engagement, damit in den kommenden Monaten tatsächlich aus den Audiobausteinen eine Inszenierung und Premiere wird (Plan: Herbst 2021).
Mich erstaunen das Pensum und die Entwicklungen seit dem 20. Dezember selbst etwas. Waren das wirklich nur zwei Monate? Und natürlich stelle ich mir hin und wieder die Frage, ob es eigentlich eine gute Entwicklung ist, denn wir sind ja alle noch in der Familienauszeit?! Darf ich überhaupt so viel „arbeiten“? Verpasse ich nicht etwas?
Und, bei aller Beschäftigung mit Projekten gäbe es in den letzten zwei Monaten auch noch ein Leben damit und daneben ;)
Dieser Artikel ist eine willkommene Gelegenheit, auch diese Gedanken in unserem Reisetagebuch festzuhalten und zu reflektieren. Aktuell denke ich, dass ich – im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern – nicht den Bedarf einer Auszeit hatte. Ich habe „meine Auszeit“ nach dem Ende meines Schweizer Engagements bei milani bereits genommen. Damals habe ich mir sechs Monate Pause gegönnt, um über meine Zukunft nachzudenken. Letztlich ist die Idee der Audiografie in dieser Zeit entstanden und es ist in all ihren Facetten nach wie vor für mich richtig.
Insofern spüre ich nicht den Bedarf, mich mit dem Abstand zum „Normalleben“ in Gehrden neu zu orientieren. Vielmehr merke ich, dass ich genau auf dem richtigen Weg bin – und diesen noch viel konsequenter weiterentdecken und entwickeln möchte. Vor allem die Transformation zum (Audio)künstler treibt mich an. Hier stehe ich gerade erst an der Schwelle. Neben dem Audiotheater wird es daher auch erste „Audio Art Projekte“ geben, bei der diese besondere Figur eine entscheidende Rolle spielen wird: Tingsy.
Auch hier dürft ihr zukünftig auch gespannt sein …
Mir scheint es eher so zu sein, dass die Monate der Reise seit Juli 2020 ein echter Kreativitätsbooster waren. Die neuen Eindrücke, Orte und das Leben abseits des Alltags in Gehrden haben mir neue Räume im Kopf eröffnet. Und ich bin dankbar für die Möglichkeiten, diese in der gemeinsamen Zeit mit meiner Familie erkunden und ausprobieren zu dürfen.
Ich habe für mich bislang gemerkt, dass es tatsächlich egal ist, wo ich bin und von wo aus ich diese Projektideen gestalten darf. Ich brauche meinen Laptop, Internet und die Freiheit, mit Elmo einen spontanen Gang an den Klippen von Carvoeiro machen zu können.
Und ich brauche auch viel Zeit für mich. Diese Zeit fülle ich gerne mit Projektideen, die mir Freude machen und mich in meiner Entwicklung weiterbringen. Ich glaube, es ist kein Widerspruch zur Familienauszeit, sondern vielleicht eine ganz gesunde Entwicklung, die für die Balance zwischen Nähe und Distanz wichtig ist.
Manchmal komme ich mir schon wie ein Künstler vor, der bei seiner Zeit im (Audio)Atelier die Zeit vergisst und in Dingen aufgehen kann, die nicht für alle anderen immer nachvollziehbar sind. Aber ich sehe da einen grundentspannten, vielleicht etwas verschrobenen und hoffentlich liebenswürdigen Mann Mitte Vierzig, der sich auf den weiteren Weg und möglichst noch einige Dekaden Schaffenszeit freut …