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Alternative Konzepte

Ingo Stoll • 11. Dezember 2020

Wir tauschen das Camper-Live gegen etwas Neues ...

Seit einer Woche sind wir jetzt in unserem kleinen portugiesischen Haus in Carvoeiro. Die Jungs gehen mit Freude (!) in die Deutsche Schule im Nachbarort und unser Wohnwagen überwintert in einer Halle ein paar Kilometer von hier. Ein echter Konzeptwechsel.
 
Wir sind bald fünf Monate auf unserer Tour und bislang war die Zeit geprägt von Reisen, neuen Ländern, neuen Eindrücken in stetigem Wechsel. 12 Länder, 35 Stationen, 14.000 Km und unglaublich viele Eindrücke. Mit der Ankunft auf dem Campingplatz in Luz war das designierte Winterquartier bezogen und dann kam die Mail der Deutschen Schule mit Option auf zwei Plätze für mindestens sechs Monate.
 
Wir waren schon gespannt, wie es sich anfühlen würde, mit dem Wohnwagen dauerhaft an einem Ort zu sein, statt regelmäßig zu neuen Ufern aufzubrechen. Das bedeutete eine neue Phase. Wofür wir uns nun allerdings entschieden haben, ist ein komplett anderes Konzept.
 
Statt Wohnwagenschule mit den Eltern gibt es die Erfahrung einer komplett neuen Schule mit neuen Lehrern und neuen Mitschülern. Statt Einraumwohnung mit (im Winter oft nassem) Vorzelt gibt es wieder ein Haus. Statt minimalen Rückzugsmöglichkeiten gibt es für die Kinder wieder ein eigenes Zimmer. Statt flexibel in den Tag hineinzuleben haben wir wieder einen strukturierten Alltag, für den es wieder einen Unterschied macht, ob es Sonntag oder Montag ist.
 
All das wurde uns ziemlich schnell bewusst als die Mail kam. In den intensiven Abwägungen und Diskussionen – auch mit den Jungs – gab es lange Listen jeweils auf der Vor- und Nachteilsseite. Ein Punkt, der uns auch beschäftigt hat, war die Frage, ob wir mit einem solchen Schritt nicht den Spirit der Auszeit „verraten“ würden. Wir wollten doch Entkopplung vom Alltag – und nun holen wir uns genau dieses Konzept wieder an Bord? Warum?
 
Die Antwort war am Ende eindeutig: weil es uns allen guttut. Es ist nach den intensiven ersten viereinhalb Monaten genau der richtige Zeitpunkt. Nachdem wir das Pendel bislang stark in der Hälfte von Freiheit und wechselnden Stimuli haben ausschlagen lassen, ist es nun Zeit für mehr Struktur und Stabilität, um in Balance zu bleiben.

13 Minuten Fahrtzeit für den Schulweg (statt 40 Minuten) waren ein überzeugendes Argument für den Wechsel des Wintercamps. Und da es hier keinen geeigneten Campingplatz in der Nähe gab, war ein Haus die sinnvolle Alternative. Und ja, der Nässe wollten wir für die kommenden Monate auch entfliehen ;). 

Der Konzeptwechsel lautet also:

Vom „Europäischen Wohnwagen-Nomadentum“ zum „Probeleben im Ausland“.

 

Von Anfang Dezember bis Ende Mai leben wir jetzt sechs Monate in Portugal. Die Jungs lernen hier neue Fächer und neue Freunde kennen. Wir nutzen Freizeitinfrastruktur, von Fitness-, über Surf- bis hin zu Capoeirakursen. Dazu geben die freien Vormittage Luft, um tatsächlich strukturierter zu arbeiten, gezielte Projekte anzugehen oder einfach durch die wundervollen Dörfer der Umgebung zu bummeln. Wir entdecken neue Stammcafés im Ort, lernen Laufstrecken einzuschätzen und freunden uns mit anderen Familien an, die dauerhaft hier leben.

 

Natürlich, auch wir kennen die Auswanderergeschichten aus dem Fernsehen, jemanden, der jemanden kennt, der ins Ausland gezogen ist, digitale Nomandenstories von Bali bis Buenos Aires. Aber selbst sind wir nun zu diesem Zustand gekommen, wie die Jungfrau zum Kinde. Es war ein innerer Wunsch, mit der ganzen Familie zu reisen – und diese Tour war unsere Idee zur Verwirklichung. Einen inneren Wunsch nach Auswanderung und Leben im Ausland gab es bislang nicht – und doch hat sich unser großes Selbstexperiment nun im zweiten Drittel des Jahres in diese Richtung entwickelt.

 

Was das für die Zukunft bedeutet? Keine Ahnung. Es gibt keinen Plan. Was es allerdings gibt, ist die Begegnung mit jeder Menge alternativer Lebenskonzepte – und das ist eine mehr als spannende Erfahrung. Es öffnet den eigenen Geist für neue Perspektiven und Lebensstile, von deren Existenz wir zum Teil bislang nichts wussten. Und sie begegnen uns nicht in einer theoretischen Form à la „man könnte eventuell …“, sondern ganz konkret in echten Personen, die diese Konzepte wirklich so leben und davon berichten.

 

Ein paar dieser alternativen Konzepte möchte ich hier einfach mal zusammenstellen. Einfach so – allerdings mit dem ergänzenden Warnhinweis, dass man sie alle auch denken kann. Und was man denken kann, kann man auch machen, wenn man will. Andersherum funktioniert das nicht.


Konzept 1: Langzeitauszeit mit Familie

Dieses Konzept kennen wir mittlerweile aus eigener Erfahrung und haben hier ja auch schon diverse Tipps geben können, wie das funktionieren kann. Auf unserer Reise haben wir einige andere Familien getroffen, die dieses Konzept ebenfalls leben. Manche reisen mit Wohnmobil, manche unterrichten ihre Kinder komplett selbst, manche kombinieren (Reise)alltag mit Urlaubsphasen ohne Schule. Wir haben die Regenbogenfamilie getroffen, die zu viert quer durch Südamerika getourt ist, inkl. Besuch spanischer Schulen. Und wir haben die Schweizer kennengelernt, die kurzerhand die geplante Neuseelandtour in eine alternative aus Europa und Südafrika abgewandelt hat, inkl. temporärem Besuch einer internationalen Schule in Kapstadt. Und ja, wir haben auch Familien mit Kleinkindern getroffen, die das Sabbatical bewusst machen, bevor die Schulpflicht kommt.

 

Konzept 2: Digitale Nomaden
Das Jahr 2020 hat vermutlich wie kein Jahr zuvor zu einem Durchbruch der mobilen Arbeitsweisen und Infrastrukturen geführt. Unter bestimmten Voraussetzungen lassen sich also „regelmäßige Arbeit“ und flexible Verortung gut unter einen Hut bringen. Ich selbst kann feststellen, dass ich als Audiograf mit meinen Projekten vermutlich tatsächlich von überall arbeiten kann. Für Petra’s bisherigen Job als Verwaltungswirtin lässt sich das nicht behaupten.

 

Wir haben auf der Reise zwei unterschiedliche Typen digitaler Nomanden kennengelernt, die sich im Wesentlichen durch die Dauer der zeitlichen Perspektiven unterscheiden:
a. Eine Auszeit über ein paar Monate mit mehr oder weniger hohem Arbeitsanteil
b. Mobile Arbeit als Dauerkonzept und essentielle Erwerbsquelle

 

Insbesondere die Umsetzung der Dauerkonzepte haben unser großes Interesse gefunden, denn hier liegen die größeren Herausforderungen. Spannend fand ich beispielsweise das Modell von Jürgen, ein aus Namibia stammender Anwalt, der seit vier Jahren mit seiner Familie in Portugal lebt: Es hat einen festen Arbeitgeber aus Nürnberg, der ihn für die Dependance in London angestellt hat. Dort können die Mitarbeiter sich frei auswählen, wo sie ihren Lebensmittelpunkt haben wollen - einzige Bedingung: der Ort muss sich innerhalb von maximal drei Flugstunden von London befinden. So können Präsenztreffen mit akzeptablem Vorlauf stattfinden, wo notwendig. Der Rest läuft im Homeoffice.

Surfschule statt Fussballverein - das Leben in anderer Umgebung bedingt ein paar Anpassungen.

Konzept 3: Halb und Halb

„Im Sommer sind wir in Deutschland und wenn der Winter kommt, wechseln wir für sechs Monate nach Neuseeland – dann ist dort Sommer.“ Diese charmanten Gedanken sind uns nicht ganz fremd, seit Petra ihre Aupairzeit bei den Kiwis verbracht hat. Damals schienen uns realistische Antworten auf die Frage „Und wie finanzieren wir das?“ allerdings eher utopisch (Petra festangestellt bei htp, ich noch selbstständig in der Agentur mit 50 Mitarbeiter, die Kinder …).

 

Seid wir Nicki und Dieter auf dem Campingplatz in Österreich getroffen haben, wissen wir, auch das geht. Die beiden haben ihre jeweiligen Managementjobs in Deutschland und der Schweiz gekündigt und arbeiten sechs Monate in Portugal für ihr neues Business, bei dem sie einen mobilen Reparaturservice für Wohnmobile und Camper an der Algarve betreiben. Hier leben sie in einem kleinen Haus, das sie gekauft haben. Die anderen sechs Monate, in der Campingnebensaison, reisen sie mit dem Wohnmobil quer durch Europa. Das Gewerbe läuft über eine Deutsche Firma – der Rest ist flexibel.

 

Klar, die beiden müssen sich nicht mehr um ihre schulpflichtigen Kinder kümmern, denn die sind schon groß. Aber auch der Kombination von „sechs Monate stationär mit Deutscher Schule und sechs Monate Reisen mit Home schooling und virtueller Klassenanbindung für Lernstoff und Prüfungen“ sind wir schon begegnet.

 

Konzept 4: Zuhause auf Rädern

„Luxus ist, jeden Tag neu entscheiden können, wo wir sein wollen.“ Diese Haltung haben wir schon bei Barbara und Robert aus nächster Nähe beobachten können. Die beiden reisen mit ihren Motorrädern um die Welt. Ihr Zuhause besteht aus der „Villa Verde“, einem kleinen grünen Zelt und der Welt als Vorgarten.

 

Die beiden haben allerdings noch ein Haus in Deutschland, welches sie vermieten. Sie sind auch nach wie vor in Deutschland mit Wohnsitz registriert. Insofern vielleicht ein offenes Konzept mit Option auf Rückkehr, wenn sie irgendwann keine Lust mehr haben sollten.

 

Wir haben jedoch auch Menschen getroffen, deren Zuhause in einem zweifelsohne komfortablen Wohnmobil von zum Teil ausladendem Format besteht. Das Haus, das vorher den Wohnort und Lebensmittelpunkt repräsentierte, wurde verkauft. „Alles, um was wir uns jetzt noch kümmern müssen, steht auf dieser Parzelle“. Diese und ähnliche Aussagen haben wir in der Form von Campingnachbarn getroffen, die in der Regel bereits in Rente waren.

 

Der jeweilige Radius variiert, aber allen war gemeinsam, dass sie eine bewusste Entscheidung getroffen haben – für die Freiheit und die „leichtere Lebensweise in der Natur“, solange es gesundheitlich noch funktioniert. Manch anderer hat sich zum gleichen Zeitpunkt bereits im eigenen, begrenzten Radius eingerichtet und erfährt über die Welt nur noch aus dem täglich stundenlang laufenden Fernseher.

 

Konzept 5: Auswandern

Und hier sind wir wieder beim definitiven Grenzübertritt, dem „Tschüss Deutschland Move“. Kannten wir bislang nur aus dem Fernsehen und von Managern internationaler Unternehmen.

Angeblich befindet sich der Goldtopf ja genau am Ende des Regenbogens. Dieser endete tatsächlich direkt am Praia do Luz ...

Unser Konzeptwechsel führt uns nun unweigerlich permanent und in steigendem Maße mit Menschen aus unterschiedlichsten Herkunftsländern zusammen, die die Algarve und Portugal zu ihrer neuen (temporären) Heimat gemacht haben. Da sind wir nichts Besonderes. Und wir haben bereits öfter den Satz „am Anfang wollten wir gar nicht lange hier bleiben“ gehört.

 

So weit sind wir noch lange nicht. Und wir sind ja auch gerade erst am Anfang, das Leben als „temporary resident“ hier auszutesten. Über die gemachten Erfahrungen werden wir euch sicher auf dem Laufenden halten, wenn ihr mögt :).

Kommentare

Stefan

Man muss sich auch ein Scheitern eingestehen können.
Krönchen richten, weitergehen.


Tanja Lutz

Was für ein Scheitern? Ihr seid doch noch mittendrin in Eurem Selbstfindungsprojekt, das ich sehr bemerkenswert finde. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich es nicht schaffe, Fesseln zu lösen und mal gegen den Strom mit meiner Familie das zu tun, wonach uns ist. Wir passen uns immer an.. Macht weiter so 🤗Dennoch würde ich mich natürlich sehr freuen, wenn ihr irgendwann wieder in Deutschland seid und wir persönlich über eure Erfahrungen sprechen können. 😉Ganz liebe Grüße Tanja und Familie


Bärbel Luszcz

Nachdem wir nun diesen Winter zu Hause verbringen (müssen), wissen wir erst, dass wir die letzten sieben Winter die richtige Entscheidung getroffen haben.
Wir wussten gar nicht mehr, wie sich Wintertemperaturen anfühlen und wie trist die Bäume ohne Blätter aussehen. Und ständig grauer Himmel geht echt an die Substanz, abgesehen von den kürzeren Tagen im Norden.


Bei den Bildern von Eurem Haus kommt schon sehr die Wehmut hoch, dass wir nicht nach Spanien können. Und ja, unser Lebenskonzept, die Winter in Spanien zu verbringen, war die beste Idee, die wir haben konnten.


Wir wünschen Euch eine tolle Zeit in Portugal, wenn auch mit Struktur, wer weiß, wie lange man so etwas machen kann.


Liebe Grüße aus dem sch....kalten Norden von Bärbel und Reinhard.


Alexander Kluge

Große Klasse, mit Genuß gelesen und großen Respekt vor Eurer Reise und Eurem Mut! Und wie schön, dass wir daran teilhaben dürfen.

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